Lautbildung

„Das Kind schafft, indem es entlehnt…die Entlehnung ist aber keine genaue Kopie; jede Nachahmung bedarf einer Auslese und somit eines schöpferischen Abweichens vom Modell. Einzelne Bestandteile dieses Modells werden ausgeschaltet, andere umgewertet. Somit kann ein kindliches Sprachlautsystem, trotz seiner Abhängigkeit von dem der Erwachsenen, Elemente enthalten, die dem Muster ganz fremd bleiben.“
R. Jakobson 1944, Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze

Die Entwicklung der Lautstrukturen ist ein Bereich der kindlichen Sprache, in dem Veränderungen in kurzen Zeitspannen besonders deutlich beobachtet (gehört) werden können. Der eigentliche Beginn der wortbezogenen Lautbildung kann um das Ende des ersten Lebensjahres herum angesiedelt werden. In dieser Phase hat das Kind grundlegende Erfahrungen mit seiner Umgebung gemacht, wobei hörbare und eigene Lautäußerungen auf verschiedene Dinge verweisen: sei es auf einen Gegenstand, den es haben möchte, auf eine erscheinende Person, auf einen fesselnden Vorgang oder auf den eigenen Zustand.

 

Was diese Phase des Einstiegs in die sprachliche Darstellung der Welt durch artikulierte Lautkombinationen besonders macht, ist, dass das Kind eine minimale Lautkombination (z.B. „da“) oder manchmal sogar nur einen einzigen Laut (z.B. ein kurzes „a“) verwendet, um auf alles in Form von Verweisungen Bezug zu nehmen.

Abbildung 1: In den frühen Stadien der Entwicklung der Wortartikulation (ungefähr um das Ende des ersten Lebensjahres) wird gelegentlich ein einzelner Laut verwendet, um auf verschiedene Objekte zu verweisen.
Abbildung 2: Gegen Ende der Entwicklung der Wortartikulation werden spezifische Lautkombinationen verwendet, um auf bestimmte Objekte zu verweisen.

Am Anfang symbolisiert ein einzelner Laut alle Objekte im kindlichen Erfahrungskreis. Am anderen Ende der Entwicklung der Lautstruktur der Muttersprache steht die Fähigkeit, umfangreiche Lautkombinationen für präzise Verweise auf einzelne Objekte verwenden zu können (siehe Abbildungen 1 und 2). Während dieser Entwicklung der Lautstruktur der Wörter sind zwei charakteristische Erscheinungen zu beobachten:

Beispiele für sich in Entwicklung befindliche Lautstrukturen einsilbiger Wörter

Lautauslassung in der Anfangsposition

„isch“ (Fisch)

Lautersatz in der Anfangsposition

„Bamm“ (Stamm), „Swein“ (Schwein), „Eile“ (Eule)

Lautersatz in der Mittelposition

„Buut“ (Boot), „Fohn“ (Föhn)

Lautersatz in der Endposition

„Fis“ (Fisch), „Dats“ (Dachs), „Lje“ (Loch)

Lautauslassung in der Endposition

„Tu“ (Tuch)

Ersatz des Anfangslautes durch Endlaut

„Dild“ (Bild)

Beispiele für sich in Entwicklung befindliche Lautstrukturen zweisilbiger Wörter

Lautauslassung in der Anfangsposition

„Pinne“ (Spinne), „Ange“ (Wange)

Lautersatz in der Anfangsposition

„Dinder“ (Kinder), „Slange“ (Schlange), „Duchen“ (Kuchen)

Auslassung der Anfangssilbe

„Fant“ (Elefant)

Lautersatz aller Laute der 1. Silbe

„Pefer“ (Käfer), „Boffee“ (Kaffee)

Lautersatz des Anfangslautes der 2. Silbe

„Löbe“ (Löwe)

Lautersatz aller Laute der 2. Silbe

„Tida“ (Tiger)

Lautauslassung in der Endposition

„Ige“ (Igel), „Apfe“ (Apfel)

Lautersatz und/oder -reduzierung in der 1. und 2. Silbe

„Dakta“ (Traktor), „Deida“ (Dreirad), „Bodeut“ (Flugzeug), „Babe“ (Gabel), „Dobe“ (Löwe)

Wiederholung einer Silbe mit ersetzten oder ausgelassenen Lauten

„Dodo“ (Traktor)

Beispiele für sich in Entwicklung befindliche Lautstrukturen drei-und mehrsilbiger Wörter

Lautauslassung in der Anfangsposition

„Metterling“ (Schmetterling)

Lautersatz in der Anfangsposition

„Büllauto“ (Müllauto), „Smetterling“ (Schmetterling)

Auslassung von Anfangssilben

„Lade“ (Schokolade)

Auslassung von Endlauten in mittleren Silben

„Apfesine“ (Apfelsine)

Reduktion auf ein ein- oder zweisilbiges Lautgemisch

„Stla“ (Schmetterling)

Sprachen variieren auf der phonetisch-phonologischen Ebene hauptsächlich darin, welche Lautunterschiede als bedeutungsunterscheidend angesehen werden, also welche Lautmerkmale für die Unterscheidung von Morphemen relevant sind. Beim Verstehen von Sprache ist das Kind in der Lage, relevante Lautunterschiede zur Unterscheidung der Bedeutung von Wörtern viel früher zu erkennen, als es in der Lage ist, diese Unterschiede in der Artikulation korrekt umzusetzen.

Durch die Verwendung von Bildmaterial oder Gegenständen könnte das Kind beispielsweise die Wörter „Bein“ und „Wein“ auditiv unterscheiden. Auf der produktiven Ebene ist jedoch das entscheidende distinktive Merkmal für die Unterscheidung der Morphemeneigenschaft die Artikulation der Laute /b/ und /w/, nämlich die bilabiale (involvierend Unter- und Oberlippe) und labiodentale (involvierend Lippen und Zähne) Bildung. Diese artikulatorische Fähigkeit wird erst später entwickelt.

Eine vergleichsweise späte Entwicklung ist die korrekte Bildung des „sch“-Lautes in bestimmten koartikulatorischen Mustern, wie zum Beispiel in den Wörtern „Schmetterling“ und „Schneemann“. Im Alter von 2;5 Jahren ersetzt das Kind den „sch“-Laut durch einen „s“-Laut. Im Alter von 3;2 Jahren bildet es den „sch“-Laut im Wesentlichen korrekt.