Einwortsatz

Die Bezeichnung „Einwortsatz“ für den Beginn der Wortsprachentwicklung wurde erstmals von C. und W. Stern (1928) verwendet. In dieser Phase der frühkindlichen Sprachentwicklung verwendet das Kind einzelne Wörter, die eine Satzfunktion haben. Die genaue Bedeutung des Satzes ergibt sich aus der Kombination folgender Faktoren:

Die Einwortsatz-Phase beginnt normalerweise um das Ende des ersten Lebensjahres und kann in ihrer Dauer variieren. Laut den STERNs dauert diese Phase etwa 6 bis 12 Monate. Nach dieser Phase verschwinden Einwortsätze nicht gänzlich, sondern werden durch grammatisch komplexere Äußerungen ergänzt, wie zum Beispiel Zwei-, Drei- oder Mehrwortsätze. Der Einwortsatz bleibt jedoch als verkürzte Ausdrucksvariante ein lebenslanges sprachliches Merkmal.

Am Anfang sind die ersten Einwortsätze häufig nicht ohne den Kontext der aktuellen Situation verständlich. Das bedeutet, wenn jemand nur das einzelne Wort hört, ist keine klare Bedeutung aus dem Wort ableitbar (siehe das obige Dialogbeispiel). Nahestehende Bezugspersonen verleihen diesen Worten eine Bedeutung, die zur aktuellen Situation passt, indem sie Sinn in sie hineininterpretieren. Auf diese Weise hört das Kind, wie sein Wort bei seinem Gegenüber einen Verstehenseffekt auslöst.

Abb.: Zu Beginn der Einwortphase erkennt das Kind, dass ein einzelnes Wort häufig nicht ausreicht, um sich in einer bestimmten Situation verständlich zu machen. In den Reaktionen der nahestehenden Bezugspersonen auf den Einwortsatz wird dem Kind oft die beabsichtigte Bedeutung der Äußerung in sprachlich korrekten Strukturen "vorgegeben".

Kennzeichen der kindlichen Sprache in der Einwortphase

Beispiele für dialogauslösende Einwortsätze im 2. Lebensjahr

ALTER: 1;1

SITUATION: Das Kind blättert in einem Bilderbuch und zeigt auf einen Baum.

KIND: Da.

ERWACHSENER: Ein ganz großer Baum.

 

ALTER: 1;4

SITUATION: Das Kind ergreift eine Kuhfigur in einem Beutel mit Spielfiguren.

KIND: Hato.

ERWACHSENER: Das ist eine Kuh…eine Kuh.

KIND: Hato.

ERWACHSENER: Die ist vom Papa noch, guck!

KIND: Papa.

ERWACHSENER: Genau, vom Papa ist das noch eine Kuh.

 

ALTER: 1;6

SITUATION: Das Kind sitzt auf dem Fußboden, legt seine Socken weg und äußert zum Vater:

KIND: Hasua (Hausschuhe).

ERWACHSENER: Die Hausschuhe sind doch in der Krippe.

KIND: Da. [greift nach einem Hausschuh des Vaters]

ERWACHSENER: Die willst du anziehen, hier, bitte. [übergibt seine Hausschuhe]

 

ALTER: 1;7

SITUATION: Das Kind geht aus dem Zimmer, blickt zur Mutter zurück und sagt:

KIND: Kakao.

ERWACHSENER: Ja der Kakao, der ist alle. Hast du ja ausgeschüttet … den hast du ja auf der Treppe runtergeschüttet aus Versehen. Ja. Jetzt hab‘ ich kein‘ Kakao mehr, der ist jetzt alle.

 

ALTER: 1:7

SITUATION: Der Vater hat das Kind auf dem Arm. Es zeigt zum Fenstergriff und sagt:

KIND: Agucken (im Sinne von „aufmachen“).

ERWACHSENER: Nee, lass mal lieber zu.

KIND: A.

ERWACHSENER: Nein, das bleibt zu.

KIND: Auf.

ERWACHSENER: Ist doch ganz kalt draußen.

KIND: Auf-achen (ach-Laut)

ERWACHSENER: Nein, wir machen ’s nicht auf.

 

ALTER: 1;8

SITUATION: Das Kind sitzt am Kaffeetisch und hört durch das geöffnete Fenster laute Kinderstimmen.

KIND: Dinner (Kinder).

ERWACHSENER: Was machen die Kinder?

KIND: Nachte (ach-Laut)

ERWACHSENER: Die lachen. Hm.

KIND: Nacht schon.

ERWACHSENER: Die lachen schon, die sind laut, ne (bestätigend).

1 Polysemie und Mehrdeutigkeit von Substantiven (und Verben): Substantive (sowie Verben) sind oft mehrdeutig und haben verschiedene Bedeutungen, die als Polysemie bekannt sind. Bereits im frühen Spracherwerb werden Kinder in Alltagssituationen mit dieser Vielfalt konfrontiert. Das Wort „Blatt“ kann bereits in dieser Phase eine Vielzahl wörtlicher Bedeutungen erfassen: ein Blatt vom Baum, ein Blatt Papier, eine Zeitung als Blatt, ein Spielkartenblatt, ein Sägeblatt, ein Schulterblatt und ähnliche wörtliche Zusammenhänge.

2 Übertragene Bedeutungen und ihre spätere Entwicklung: Die übertragenen Bedeutungen eines Wortes werden meist erst im späteren Spracherwerb erlernt. Kinder lernen diese facettenreichen Bedeutungsnuancen durch vielfältigen Sprachkontakt mit ihrer Lebenswelt und unterstützendes Kommunikationsverhalten in der Familie kennen. Eine förderliche Vorlesekultur kann dabei eine wichtige Rolle spielen. Weitere Beispiele, die das Wort „Blatt“ in metaphorischer Bedeutung zeigen, sind:

    • „kein Blatt vor den Mund nehmen“
    • „ein unbeschriebenes Blatt sein“
    • „auf einem anderen Blatt stehen“

Solche vielseitigen Kontexte und sprachlichen Nuancen werden schrittweise verstanden und integriert, wodurch Kinder ihre sprachliche Flexibilität und Ausdruckskraft erweitern.