"...die Zeit und der Raum sind keine fertig vorgegebenen Kategorien, die in irgendeiner Weise schon vor unserer Tätigkeit und unserer Intelligenz existieren. Verlangend und handelnd in Richtung unserer Wünsche schaffen wir zugleich Raum und Zeit; wir leben und die Welt (oder das, was wir so nennen) entsteht vor unseren Augen." J.-M. Guyau 1890, Die Entstehung des Zeitbegriffs |
Nichtsprachliche Mittel, mit denen man in einen anderen Raum und in eine andere
Zeit als die gegenwärtige verweisen kann sind:
Lexikalische Mittel | Flexionsmorphologische Mittel |
Verben ("Zeitwörter") Mit den Verben wird ein bestimmter Bezug zum "Zeitfluss" hergestellt. Die Verbwahl kann beinhalten: - einen Bezug auf einen Zustand ("liegen"), Vorgang ("regnen") oder eine Handlung ("geben") - einen Bezug auf eine interne zeitliche Struktur z.B. eines Ereignisses ("abfliegen"=beginnendes Ereignis, "ankommen"=endendes Ereignis) - in Verbindung mit anderen lexikalischen Mitteln einen Bezug auf einen zeitlichen Verlauf ("kommt gerade") |
Tempusmarkierungen: eine Handlung, ein Vorgang oder ein Ereignis werden zeitlich lokalisiert, indem Laute/Silben verändert und/oder hinzugefügt werden. Beispiele für ein schwaches Verb (holen) und ein starkes Verb (geben) sind: - Präsens: hole/holt, gebe/gibt - Präteritum: holte, gab - Perfekt: hat geholt, hat gegeben - Plusquamperfekt: hatte geholt, hatte gegeben - Futur I: wird holen, wird geben - Futur II; wird geholt haben, wird gegeben haben |
Substantive - alle Substantive, die auf einen anderen Ort oder einen anderen Raum als den verweisen, den die Sprecher einnehmen ("Zimmer", "Garten", "Hamburg"...) - Alle Substantive, die auf eine bestimmte Zeit oder einen bestimmten Zeitabschnitt verweisen ("Ende", "Schluss", "Abend", "Mittwoch", "Jahr"..) |
keine Markierungen der Zeit vorhanden |
Adverbien - für einen Raumbezug: hier, dort, hinten, oben, da vorne, zwischen, außerhalb, weit weg,.... - für einen Zeitbezug: jetzt, nachher, wieder, gestern, bald, früher,..... |
Adverbien sind nicht flektierbar |
Partikeln - für einen Zeitbezug: noch, schon, erst |
Partikeln sind nicht flektierbar |
Zeit- und Raumbezugsmittel sind Kernelemente der kommunikativen Kompetenz. Die Bedeutung dieser Mittel wird besonders deutlich, wenn man sie aus den alltagssprachlichen Äußerungen herausnimmt. Das Mitgeteilte wird hochgradig vieldeutig oder völlig unverständlich.
Die ersten sprachlichen Bezüge auf zeitlich nicht Gegenwärtiges verwendet das Kind
etwa in der Mitte des 2. Lebensjahres. Meist sind es sog. Aktionswörter, die es im
Zusammenhang mit Vorgängen des Verschwindens von Gegenständen, Weggehen von Personen
oder Aufhören eines Vorganges oder Ablaufes gehört hat. Für deutschsprachige Kinder ist
es häufig "alle alle" und/oder "weg", für englischsprachige Kinder
"gone". Etwa im letzten Drittel des zweiten Lebensjahres erscheinen erste
Adverbien der Wiederholung ("nochmal", "wieder"), da das Kind in
dieser Zeit besonders Gefallen am Wiederholen eigener effektvoller Handlungen und von
anderen ausgeführten Aktionen hat. Mit etwa 3 Jahren beginnt es, Zeitadverbien wie
"gestern" und "morgen" zu verwenden. Aber bis diese Zeitadverbien
semantisch korrekt gebraucht werden, vergehen etwa zwei weitere Jahre. So kommt es häufig
vor, dass das Kind am Nachmittag ein Ereignis am Vormittag zeitlich mit
"gestern" einordnet. In der nachfolgenden Abbildung ist die Entwicklung der
kognitiven Grundlagen für sprachlich abgebildete Zeitbezüge dargestellt.
Die Zeitbezugsmittel sind die wichtigsten sprachlichen Mittel, um Ereignisse, Vorgänge und Handlungen in Form von Mitteilungen, Berichten, Beobachtungsschilderungen, Erzählungen u.a. in ihrer zeitlichen Lokalisation und Abfolge korrekt darzustellen. Diese Mittel hört das Kind in der sprachlichen Interaktion mit seinen engsten Bezugspersonen. Hier erfährt es auch, wie diese Mittel eingesetzt werden, d.h. wie genau etwas zeitlich präzisiert wird, welche Dinge der Vergangenheit besonders erzählwürdig sind, welchen Personen man was erzählt, usw. Damit sind sie auch grundlegende Bedingungen für die mit der Identitätsentwicklung so eng verbundene narrative Kompetenz.